Gips allein macht nicht glücklich
„FINN HATTE DIESES GEFÜHL NOCH NIE ERLEBT. DIESES WINZIG KLEINE WESEN HATTE SEINEN WEG INS LEBEN GEFUNDEN. FINN FÜHLTE SICH ZU TRÄNEN GERÜHRT. DAS BILD WAR WUNDERVOLL UND UNWIRKLICH ZUGLEICH. AUF DEN HANDTÜCHERN VOR IHM LAGEN DIE ELTERN. DIE SPLITTERFASERNACKTE MIMI IN DEN ARMEN SASKIAS. AUF DEM GIPSVERSCHMIERTEN BAUCH MIMIS LAG DAS NEUGEBORENE. ES WAR VON OBEN BIS UNTEN MIT DICKER WEIßER KÄSESCHMIERE ÜBERZOGEN UND WIRKTE WIE … EINGEGIPST.“
Finn ist rastlos unterwegs in seinem Samba. Für ein Jahr entflieht er dem Alltag. Sein Plan – kein Plan. Ein kurzer Halt. Ein neuer Aufbruch. Abseits eingefahrener Wege trifft Finn liebenswerte Alltagshelden und das Wunder des Lebens in all seiner Vielfalt, mit all seiner Farbenpracht. Auf seinem ganz eigenen Weg zu mehr Leichtigkeit ist er nie vor Überraschungen sicher. Nacktes Leben wird sein unfreiwilliger Weggefährte. Und immer wieder in GIPS erstarrte Nacktheit. So wird Finns Suche nach Freiheit und einem glücklichen Leben zu einem berauschenden Sommermärchen.
Leseprobe
Ein Jahr ohne Plan, das war Finns Plan.
Und dies war ein guter Plan.
Finn war Vermögensberater der Kölner Privatbank Berenthal & Beerbaum, die auf eine lange Tradition zurückblicken konnte. Die Wurzeln des Bankhauses reichen zurück bis in das achtzehnte Jahrhundert. Zu Finns Kunden gehörten sehr vermögende Menschen. Es gibt Menschen, die haben viel Geld. Es gibt aber auch Menschen, die haben sehr viel Geld. Finns Aufgabe war es, diese sehr reichen Menschen noch etwas reicher zu machen. Seine Kunden folgten nicht der Maxime, werde reich und tue Gutes. Ihr philanthropischer Glaubenssatz lautete: Tue Gutes für mich, damit sich mein Reichtum mehrt. Die Philosophie des Bankhauses verkörperte diese Kundenwünsche seit fast dreihundert Jahren mit absoluter Vertraulichkeit und uneingeschränkter Diskretion. Das alleinige Ziel einer gnadenlosen Gewinnmaximierung wurde geräuschlos und mit viel Fingerspitzengefühl verfolgt.
Finns beruflicher Aufstieg zum Private Wealth Manager von Berenthal & Beerbaum war keinem vorgezeichneten Weg gefolgt und hatte sich eher zufällig ergeben. Schon lange vor dem Ende seiner Schulzeit drängten ihn seine Eltern mit der Frage, welche Pläne er für die Zeit nach dem Abitur habe.
„Das weiß ich noch nicht. Darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, war Finns stereotype Antwort.
Wenn der Druck zu groß wurde, antwortete er: „Ich werde Psychologie studieren.“
Dies löste bei seinen Eltern resigniertes Kopfschütteln aus und verschaffte ihm eine Verschnaufpause – aber nur kurz.
Plötzlich war er da, der Tag der Abiturfeier. Alessandro und Ingo, seine beiden langjährigen und besten Schulfreunde, hatten genaue Vorstellungen von ihrer beruflichen Zukunft. Alessandro hatte sich für Rechtswissenschaften und Ingo für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre eingeschrieben. Finn konnte sich vorstellen, kreativ zu arbeiten. Finns Entscheidung war nicht wirklich kreativ. Er nahm den Mittelweg von Alessandro und Ingo. Er studierte Wirtschaftsrecht und besuchte einige Vorlesungen von Professor Bodefink zum Thema ‚Störungen im Spannungsfeld von Leidenschaft, Sex und Sucht‘ am Institut für Psychologie und Psychotherapie. Er hätte nie geahnt, wie eng diese ungleichen Fachbereiche Wirtschaft und Psychologie in seinem Alltag im Bankhaus verflochten sein würden.
Finn hatte sehr viel zu tun. Auch die übrigen Privatkundenberater hatten einen randvoll gefüllten Terminkalender, aber die meisten Kunden bevorzugten Finns Beratung, selbst dann, wenn sie wochenlang auf einen Termin bei ihm warten mussten. Finns Kunden waren immer wieder sprachlos, wenn sie erstmals sein Büro betraten und vor ihm standen. Das lag nicht an seiner Kleidung, die einem Bankier durchaus angemessen war, auch wenn er nie eine Krawatte trug. Finn saß hinter seinem Schreibtisch, den er sich aus einer rostbraunen Motorhaube und dem Kühlergrill eines Jeep Wranglers anfertigen ließ. Auf die nackte Betonwand hinter seinem Schreibtisch hatte er sich von seinem Freund DeVul, einem der Street-Art-Ikonen, ein die gesamte Wand ausfüllendes, knallbuntes Graffiti sprühen lassen. Über dem Besprechungstisch hingen zwei Skateboards, in die mehrere LED-Lampen eingearbeitet waren.
Und dann war da noch der Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch. Ein quadratischer Gipswürfel mit einer skulpturalen Oberfläche. Wenn seine Besucher den Briefbeschwerer bemerkten, löste er bei ihnen sehr unterschiedliche Fantasien und Gefühle aus, die stets sehr intensiv und emotional waren.